Forschung zeigt: Faszien können Ursache für Schmerzen sein (2023)

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Die moderne Medizin kann bereits in vielen Bereichen erklären, wie unser Körper funktioniert, in der Schmerzforschung sind jedoch noch viele Fragen offen. Dieser Wissenslücke schenkt die internationale Forschergemeinschaft inzwischen mehr Aufmerksamkeit und versucht, diese nach und nach zu schließen. In den vergangenen Jahren stieß sie in ganz unterschiedlichen Bereichen auf neue, teilweise verblüffende Erkenntnisse, die uns besser verstehen lassen, warum Schmerzen entstehen. Das betrifft auch die Erforschung der Faszien.

Lange Zeit konzentrierte man sich in der Schmerzforschung darauf, Muskelveränderungen zu untersuchen und ihre Auswirkungen auf das Schmerzempfinden. Faszien hielt man für nichts weiter als ein Gewebe, das die Organe und Muskeln umhüllt. Daher leitet sich auch der Begriff ‚Bindegewebe‘ ab, der neben dem Begriff ‚Faszien‘ zur Benennung häufig verwendet wird. Man ging davon aus, dass diese Gewebestruktur lediglich eine mechanische Stützfunktion hat und bei der Entstehung von Schmerzen keine Rolle spielt.

Die moderne Medizin kann bereits in vielen Bereichen erklären, wie unser Körper funktioniert, in der Schmerzforschung sind jedoch noch viele Fragen offen. Diese Wissenslücke schenkt die internationale Forschergemeinschaft inzwischen mehr Aufmerksamkeit und versucht, diese nach und nach zu schließen. In den vergangenen Jahren stieß sie in ganz unterschiedlichen Bereichen auf neue, teilweise verblüffende Erkenntnisse, die uns besser verstehen lassen, warum Schmerzen entstehen.

Das gilt zum Beispiel für die Erforschung der Faszien. Langezeit konzentrierte man sich in der Schmerzforschung darauf, Muskelveränderungen zu untersuchen und ihre Auswirkungen auf das Schmerzempfinden. Faszien hielt man für nichts weiter als ein Gewebe, das die Organe und Muskeln umhüllt. Daher auch der Begriff ‚Bindegewebe‘, der neben dem Begriff ‚Faszien‘ zur Benennung häufig verwendet wird. Man ging davon aus, dass diese Gewebestruktur lediglich eine mechanische Stützfunktion hat und bei der Entstehung von Schmerzen keine Rolle spielt.

Veröffentlichung

Suarez-Rodriguez, V., Fede, C., Pirri, C., Petrelli, L., Loro-Ferrer, J. F., Rodriguez-Ruiz, D., De Caro, R., & Stecco, C. (2022). Fascial Innervation: A Systematic Review of the Literature.International journal of molecular sciences,23(10), 5674.

(Zugriff am 13.04.2023) Forschung zeigt: Faszien können Ursache für Schmerzen sein (1)

Faszien als mögliche Schmerzursache erkannt

Nun verändert sich das Bild der Wissenschaft auf diese Gewebeart. Seit etwa zwei Jahrzehnten beschäftigt sich die medizinische Forschung systematisch mit den Faszien1) und stößt dabei immer wieder auf faszinierende Details.

Eine Erkenntnis ist für die Schmerzforschung besonders interessant: Die Vorgänge in den Faszien können eine Ursache für die Entstehung von Schmerzen sein.

Ein Team aus Forscherinnen und Forschern des Instituts für Human-Anatomie der Universität Padua, Italien, und der Universität von Las Palmas auf Gran Canaria, Spanien, ist der Auffassung, dass Faszien sogar eine Schlüsselrolle in der modernen Schmerzforschung spielen. Es machte sich auf die Suche nach Ergebnissen, die diese Annahme untermauern und trug dafür den bisherigen Stand der Faszienforschung zur Schmerzentstehung systematisch zusammen und wertete ihn aus2).

Erklärtes Ziel der Forscherinnen und Forscher war es, neue Erkenntnisse über die Entstehung von Schmerzen beizusteuern. Sie wollen damit Ärztinnen und Ärzte unterstützen, die Ursachen bestimmter Schmerzen besser zu verstehen. Wenn der Ursprung bekannt ist, lassen sich Schmerzen mit gezielten Therapieansätzen oftmals wirksamer behandeln.

Vom Stützgewebe zum Organ

In der Welt der Anatomie haben die Faszien eine rasante Entwicklung durchgemacht. Von einem rein mechanischen Stützgewebe spricht keiner mehr. Das Fasziengewebe wird inzwischen als eigenes Organ angesehen, und zwar als ein relativ großes: Es macht etwa 20 Prozent des Volumens des menschlichen Körpers aus.

Die medizinische Forschung entdeckt fortlaufend neue Eigenschaften, die nach und nach immer deutlicher belegen, welche Aufgaben Faszien im Organismus wahrnehmen.

Forschung zeigt: Faszien können Ursache für Schmerzen sein (2)

Fasziengewebe unter dem Mikroskop (© Photobank.kiev.ua | shutterstock.com)

In der vorliegenden Arbeit konzentrierten sich die Forscher auf Studien, die sich mit der genaueren Untersuchung des Fasziengewebes auf kleinster anatomischer Ebene, also auf Zellebene beschäftigten. Sie berücksichtigten Studien, bei denen histologische und immuno-histochemische Prozesse im Mittelpunkt standen und die in einem Zeitraum von 2000 bis 2021 auf Englisch oder Spanisch publiziert wurden. Aus einer Flut von anfänglich 5210 Studien filterten sie schließlich 23 Studien heraus, die den Zusammenhang von Faszien und Schmerzen auf Zellebene genauer untersuchten. Die Studien wurden sowohl bei Menschen als auch bei Tieren durchgeführt und analysierten unterschiedliche Körperbereiche: Kopf, Rumpf sowie obere und untere Extremitäten. Am Rumpf wurden Faszien des oberen Rückens und der Brust, des unteren Rückens und des Gesäßes untersucht.

Allein acht Studien beschäftigten sich mit den Faszien des unteren Rückens, auch thorakolumbale Faszien genannt. Damit sind die Faszien des unteren Rückens die bisher am ausführlichsten erforschten Faszien des gesamten Fasziengeflechts. Eine spektakuläre Erkenntnis: in allen Studien wurden Nervenfasern entdeckt, von denen die verschiedenen Schichten dieser Faszien regelrecht durchdrungen waren. Das zeigt, dass die Faszien keine rein mechanischen Gewebestrukturen sind, sondern in ihrer Gesamtheit ein empfindsames System sind, die ein wichtiges Organ des Körpers bilden.

Untersuchungen an Schmerzpatientinnen und -patienten

Wie man sich vorstellen kann, ist es äußerst schwierig, an lebenden Menschen die Beschaffenheit ihrer Faszien zu untersuchen. Bei einem Großteil der Studien nahmen die Forscherinnen und Forscher Gewebeproben unter die Lupe, die von menschlichen Leichen oder Tieren wie Ratten, Mäusen und Pferden stammten. Unter den hier herangezogenen Studien befindet sich gleichwohl eine, die mit lebenden Menschen durchgeführt wurde 3).

Die Forscherinnen und Forscher setzten hier moderne bildgebende Verfahren ein, um eindeutig identifizieren zu können, welche Rolle die Faszien im Schmerzgeschehen spielen. Sie wollten herausfinden, ob die Schmerzsignale, die der Körper aussendet, direkt von den Faszien ausgehen. Dazu verabreichten sie mit einer Spritze schmerzlindernde Mittel genau in die Faszienschicht, in der sie die schmerzauslösenden Nervenenden vermuteten. Die exakte Positionierung der Kanüle war mithilfe von Ultraschallbildern möglich, die die dünne Faszienschicht im lebenden Organismus sichtbar machten. Und tatsächlich, nach Gabe des Schmerzmittels ließen die Schmerzen bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Studie nach.

Forschung zeigt: Faszien können Ursache für Schmerzen sein (3)

Forschung zeigt: Faszien können Ursache für Schmerzen sein (4)

Angaben der Studienteinehmerinnen und Studienteilnehmer zu ihrem Schmerzempfinden vor und nach Gabe eines Schmerzmittels in die Faszienschicht (© Liebscher & Bracht)

Unterschiedliche Aufgaben in unterschiedlichen Faszienschichten

Eine weitere Erkenntnis, die sich in verschiedenen Studien immer wieder bestätigte: Die Dichte des Nervengeflechts innerhalb einer Faszie ist offenbar je nach Schicht unterschiedlich groß. Die Nozizeptoren, also die schmerzempfänglichen freien Nervenden, waren größtenteils in der äußeren Faszienschicht zu finden, die meisten Nervenstränge laufen an der Schnittstelle von Muskel- zu Fasziengewebe entlang. Faszien sind komplex aufgebaute Strukturen und erfüllen vielfältige Aufgaben.

Forschung zeigt: Faszien können Ursache für Schmerzen sein (5)

Querschnitt von Haut- und Faszienschicht (© Liebscher & Bracht)

Die Nervenstruktur in entzündeten Faszien

Besonders interessant in Bezug auf die Schmerzforschung dürfte die Erkenntnis sein, dass sich in entzündeten Faszien deutlich mehr schmerzempfindliche freie Nervenenden ausbilden als das bei gesunden Faszien der Fall ist 4) 5). Der Anteil an Schmerzrezeptoren ist um ein Viertel höher als in gesundem Fasziengewebe.

Forschung zeigt: Faszien können Ursache für Schmerzen sein (6)

Anteil von schmerzempfindlichen SP-IR Nozizeptoren – bei den thorakolumbalen Faszien, also den Faszien im unteren Rückenbereich:

  • im gesunden Fasziengewebe 2.0 auf 1000 µm²
  • im entzündeten Fasziengewebe 2.5 auf 1000 µm²

(© Liebscher & Bracht)

Durchbruch in der Schmerzbehandlung?

Die Ergebnisse dieses Überblicks über die Faszienforschung auf Zellebene sind vielversprechend: Durch die Bestätigung von mehreren Studien gilt es nun als wissenschaftlich gesichert, dass Faszien mit Nervenzellen und Nervenfasern regelrecht durchdrungen sind und dass sie vielfältige Funktionen haben. Durch Reizausübung und Reizwahrnehmung steuern die Nerven in den Faszien bestimmte Körpervorgänge. Wenn das Gleichgewicht der Körperfunktionen an einer oder mehreren Stellen gestört ist, bei denen die Faszien beteiligt sind, reagieren diese darauf: Sie lösen in vielen Fällen Schmerzen aus.

Faszien können also eine der wesentlichen Ursachen für Schmerzen sein. Je besser wir verstehen, wie Schmerzen entstehen, desto gezielter können wir sie behandeln. Durch die Arbeit der Forscherinnen und Forscher in Padua und Las Palmas ist die Forschung diesem Ziel ein gutes Stück näher gekommen.

Quellen & Studien

  • ↑1 Findley, T. W., & Shalwala, M. (2013). Fascia Research Congress evidence from the 100 year perspective of Andrew Taylor Still. Journal of bodywork and movement therapies, 17(3), 356–364.
  • ↑2 Suarez-Rodriguez, V., Fede, C., Pirri, C., Petrelli, L., Loro-Ferrer, J. F., Rodriguez-Ruiz, D., De Caro, R., & Stecco, C. (2022). Fascial Innervation: A Systematic Review of the Literature. International journal of molecular sciences, 23(10), 5674.
  • ↑3 Domingo, T., Blasi, J., Casals, M., Mayoral, V., Ortiz-Sagristá, J. C., & Miguel-Pérez, M. (2011). Is interfascial block with ultrasound-guided puncture useful in treatment of myofascial pain of the trapezius muscle?. The Clinical journal of pain, 27(4), 297–303.
  • ↑4 Marpalli, S., Mohandas Rao, K. G., Venkatesan, P., & George, B. M. (2021). The morphological and microscopical characteristics of posterior layer of human thoracolumbar fascia; A potential source of low back pain. Morphologie : bulletin de l'Association des anatomistes, 105(351), 308–315.
  • ↑5 Sanchis-Alfonso, V., & Roselló-Sastre, E. (2000). Immunohistochemical analysis for neural markers of the lateral retinaculum in patients with isolated symptomatic patellofemoral malalignment. A neuroanatomic basis for anterior knee pain in the active young patient.The American journal of sports medicine, 28(5), 725–731.

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Author: Kieth Sipes

Last Updated: 06/05/2023

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